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«Es braucht eine Ökologie des Denkens»

Gespräch: Bea Knecht hat Informatik studiert und ist mit der Gründung der TV-Streaming-Plattform Zattoo neue Wege im Medienbereich gegangen. Im Gespräch äussert sie sich über Fortschritt, Zukunft und die damit verbundene Entwicklung der Gesellschaft.

«Es braucht eine Ökologie des Denkens»

Bea Knecht, wann hat sich Fortschritt in Ihrem Leben am eindrücklichsten manifestiert?Es gab zahlreiche Momente, wo ich grosse Schritte für meine Zukunft machte. Ganz besonders prägend war die Zeit, als ich 1985 zwecks eines Austauschjahrs von der Kanti Aarau an die Highschool in Palm Springs wechselte. Das war wie ein Schritt von der Steinzeit ins Weltall. Und ich möchte betonen, dass die Kantonsschule Aarau damals gut aufgestellt war und sicher zu den renommiertesten Gymnasien in der Schweiz gehörte. Dennoch war in den USA einfach alles anders. Grösser, umfassender, innovativer – die ganze Institution war im Vergleich zu uns meilenweit voraus.

Würden Sie jungen Studierenden ein Austauschjahr auch heute noch empfehlen?

Auf jeden Fall. Es ist wie ein Neubeginn. Man lernt in einer neuen Sprache zu denken, zu sprechen und zu schreiben – und schliesslich sogar zu träumen. Begriffe, die durch unser Vokabular und Erfahrungen geprägt sind, werden neu besetzt, erhalten andere Bedeutungen und eröffnen unterschiedliche Perspektiven. Während unserer Schul- und Ausbildungsjahre sammeln wir bereits einigen geistigen «Müll» an – Dinge, die wir wissen, aber nicht wirklich brauchen können. Ein Change in eine andere Welt eröffnet Möglichkeiten, sich neu zu definieren und Platz für neues Wissen zu schaffen.

Haben Sie bei diesem Auslandaufenthalt entschieden, Ihr Studium in den USA fortzusetzen?

Eigentlich schon. Nach nur einem Monat in der Schweiz bewarb ich mich zur Aufnahme an der University of California in Berkeley, schaffte diese Hürde, übersiedelte definitiv nach Kalifornien und begann ein Informatikstudium. Die Matura an der Kanti Aarau hab ich quasi überhüpft.

Ein grosser Schritt für Sie. Welche Art von Fortschritt erachten Sie heute als besonders wichtig für die Gesellschaft?

Das «Sensemaking». Es bedeutet, dass wir verstehen, wie die Welt und ihre Ereignisse in Zusammenhang stehen, und lernen, diese Prozesse nachzuvollziehen und zu deuten. «Sensemaking» nenne ich eine Art Ökologie des Denkens, und es hat die Aufgabe, Wissen aufgrund von Fakten und Realitäten zusammenzufassen und zu formulieren. So können wir uns besser Herausforderungen stellen, die Politik, Wissenschaft und Forschung, Wirtschaft, Medien und überhaupt jeden einzelnen Menschen betreffen. Die Gesellschaft ist immer und überall einer gewissen «Kontaminierung» durch Falschinformationen, Interessenkonflikte und Propaganda ausgesetzt. Herrschende Dogmen beeinflussen unsere Denkweisen. Hier gilt es, verifizierte Informationen breit gefächert und fundiert einzuholen, um sich damit eine Meinung bilden zu können. An dieser Aufgabe zu arbeiten und zu wachsen erachte ich als Fortschritt. Eine wichtige Rolle spielen dabei natürlich der Journalismus und die Medien ganz allgemein. Ich bin überzeugt, dass ein gut funktionierendes Land und eine ausgewogene und freie Presse kausal miteinander verknüpft sind.

Ist das Internet der grösste Fortschritt für Technologie und Gesellschaft?

Es ist der Turbo für die Zukunft! Die globale Vernetzung allen Wissens und aller Informationen, dazu die beinahe unbeschränkte Kommunikation und den weltweiten Datentransfer gab es vor dem Internet nicht. Gleichzeitig ist seit Jahrhunderten ein Fortschrittsprozess im Gange, es hat schon immer viele Bausteine zur Entwicklung gebraucht.

Sie sind Pionierin beim Fernsehen über das Internet. Die TV-Streaming-Plattform Zattoo ist Ihre Erfindung. Wie kam es dazu?

Bereits in den 1990er-Jahren habe ich mich mit dem Thema Internet-TV, hohen Datenmengen und grosser Rechnerleistung auseinandergesetzt. Sogenannte Supercomputer, die eine mit heute vergleichbare Geschwindigkeit und Leistung aufweisen konnten, waren damals riesig und benötigten den Platz ganzer Stockwerke oder Keller. 2005 gab es die ersten schnellen Prozessoren, die dem Anspruch genügten, Filme und Fernsehen eins zu eins zu übertragen und auf dem Display darzustellen. Moderne Fernsehgeräte wurden in der Folge mit schnellen Chips ausgestattet und konnten das Signal von Kabelfernsehanbietern umwandeln und Bilder mit hoher Qualität ausstrahlen. Meine Idee war es, den normalen Computerbildschirm als Fernsehgerät zu nutzen und das Signal direkt aus dem Internet zu beziehen. Zattoo macht genau das und bietet eine grosse Palette an Sendern an, die früher nur mit einem Abonnement bei einem Kommunikationsunternehmen verfügbar waren. Zattoo war und ist schon eine kleine Revolution gegenüber den herkömmlichen Anbietern.

Funktioniert mein Zattoo-Account in der Schweiz auch im Ausland?

Im Ausland stehen nicht alle Sender per Livestream zur Verfügung. Das hat mit rechtlichen Belangen zu tun, auch mit Lizenzen bezüglich Ausstrahlung und Urheberrechten. Möglich ist aber das Aufzeichnen aller Sendungen.

Kann lineares Fernsehen überleben oder nehmen Streamingdienste wie Netflix oder oneplus dessen Platz ein?

Fernsehen im herkömmlichen Sinn hat sehr wohl Zukunft, denn die Vielfältigkeit – und in den meisten Fällen auch die Qualität – ist sehr gross. Täglich werden von den Fernsehstationen weltweit Tausende Stunden frischer Inhalt produziert und ausgestrahlt. Demgegenüber können Streamingdienste weniger Vielfalt anbieten. Der Knackpunkt beim TV sind die oft fehlenden Metadaten: Es sind dies Informationen über die Inhalte der Sendungen – was wann und wo gesendet wird oder gesendet wurde. Stünden diese Daten breit gefächert zur Verfügung, könnte man das Angebot beim TV-Streaming noch attraktiver gestalten.

Die IT- und Computerbranche war lange Zeit fest in Männerhand, Microsoft und Apple lassen grüssen. Hat sich dies verändert und welches sind Ihre Erfahrungen dazu?

Start-up-Gründer-Teams rotten sich oft zusammen wie Musikbands. Frauen können eine Rolle spielen, wie sie sie auch in Bands spielen können. Im Bereich des Produkt- und Interfacedesigns, des Webdesigns, des Softwaresupports und des Marketings sind schon lange viele Frauen tätig. Frauen können durch Fokussierung und Aneignung von Expertenwissen Chefentwicklerinnen oder Architektinnen werden. Ich übertreibe nun ein bisschen, um einen Punkt zu machen: Frauen müssen sich dazu wie Männer auf Gedeih und Verderb ins Projekt verbeissen, mächtige Technikwerkzeuge einsetzen und lange an Lösungen tüfteln. Ihre langjährige technische Expertise muss dann mit einer innovativen Vermarktung verbunden werden und mit einer Prise Wahnsinn und Wagemut garen bis zur Reife. Das ist ein langes, ernstes Spiel, bei dem Frauen unterwegs eher ihre Prioritäten umwidmen als Männer. Es ist von der Anlage her ungewollt frauenfeindlich. Die Lösung sehe ich in einer breiteren Abstützung der Führung – damit zum Beispiel auch eine Chefarchitektin mal eine Babypause einlegen kann – und in weiteren Massnahmen. In der Regel bieten Universitäten und grosse Firmen eher das Umfeld dazu als ein Start-up. Ein Beispiel für Innovation durch Frauen an Universitäten bieten die Erfinderinnen von CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats), der Nobelpreis-prämierten Genschere, welche die Biotech-Branche revolutioniert.

Was ist Ihr nächstes Projekt, welchen Weg in die Zukunft beschreiten Sie?

Ich mache mir Gedanken, wie ich die kommenden 20 Jahre gestalten will. Nach wie vor lerne ich gerne. Dazu gehört für mich auch das Umsetzen von neuem Wissen. Zum Beispiel würde ich gerne eine neue Wetter-App entwickeln. Dazu bin ich Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission. Und weil ich es nötig finde, dass «Sensemaking» auch in der Politik an Wichtigkeit gewinnt, überlege ich mir ein Engagement in diesem Bereich. Neben all dem gehe ich auch gerne schwimmen und campen und gönne mir Auszeiten, meist für zwei bis drei Monate pro Jahr in den USA. (tp)

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Bea Knecht
Informatikerin, Unternehmerin und Gründerin von Zattoo

Bea Knecht wuchs in Windisch auf und studierte Informatik an der University of California in Berkeley. Sie absolvierte ein Masterstudium in Business Administrations am International Institute for Management Development (IMD) in Lausanne. Nach dem Studium arbeitete sie in der Beratung und im Management, als Associate-Partnerin bei McKinsey und als Softwareentwicklerin. 2005 gründete Knecht gemeinsam mit Sugih Jamin den Schweizer TV-Streamingdienst Zattoo und ist heute Vizepräsidentin des Verwaltungsrats. Bea Knecht ist zudem Gründerin und Verwaltungsratspräsidentin der Start-ups Genistat und Levuro. Als Entwicklerin und Unternehmerin erhielt sie verschiedene Preise und Auszeichnungen. Knecht ist zudem Mitglied der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK). Bis 2012 lebte Knecht als Mann. Seit ihrer Transition äussert sie sich öffentlich über Genderthemen. (zvg/womenscircle.ch)

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