Was mache ich wirklich gern? Welche Arbeit würde mir liegen? Diese Fragen drängten sich Willibald Richter ab Mitte 50 immer häufiger auf. Dabei lief seine Karriere als Jurist wie auf Schienen. Warum nicht noch zehn Jahre in der Komfortzone ausharren bis zur rechtmässigen Pensionierung? Aus finanzieller Sicht wäre das der vernünftige Weg gewesen.Willibald Richter war seit der Studienzeit an der Uni Bern bei einer Grossversicherung tätig. Sie hatte dem jungen, unbekümmerten Mann damals eine verantwortungsvolle, lukrative Position angeboten. Richter wurde mit dem Aufbau neuer Versicherungsprodukte betraut und genoss das Vertrauen des Topmanagements. «Ich habe keine Karriereplanung gemacht, und es hätte mir nicht besser laufen können», sagt der Jurist rückblickend. Doch die innere Zufriedenheit war auf der Strecke geblieben. Immer mehr machte sich das Bedürfnis nach Erfüllung jenseits jahrelanger Routine bemerkbar. Ab Mitte 50 waren die inneren Stimmen nicht länger zu verdrängen. Richter kündigte und trat eine Auszeit an. Konkrete Ziele hatte er keine. Sicher war für ihn einzig dies: «Ich bin noch nicht reif für die Pensionierung
Auf eine lange Geduldsprobe eingestellt, setzte Willibald Richter bewusst auf Naheliegendes. «Ich suchte Aufträge und Mandate, bei denen ich auf meinem Know-how aufbauen kann.» Er bot im Bekannten-Netzwerk seine Dienste an und hatte schon bald viel zu tun: mit Steuererklärungen und juristischen Beratungen bei Erbteilungen oder Schadensfällen. Die Mund-zu-Mund-Propaganda tat das ihre. Als erfahrener Jurist überarbeitete er die Statuten eines kleinen Pferdevereins. Eine lukrative Anfrage einer Versicherung lehnte er hingegen ab. Im alten Fahrwasser zu landen, war keine Option.
Andere weiterbringen
Eines Tages fragte ein Kollege bei Richter an, ob dieser als Lehrer für Rechtskunde einspringen wolle. Das war eine Wende. «Aus diesen Schulstunden kam ich mit einem Smile heraus», beschreibt der Jurist den Moment. Das gute Gefühl, vor Menschen zu stehen, ihnen Wissen zu vermitteln und sie auf ihrem Weg weiterzubringen, beglückte ihn.
«Wenn Erfahrung und Wissen brach liegen würden, wäre das doch schade.»
Nun war klar, wohin die Berufsreise weitergehen würde. Der Lehrerberuf will jedoch erlernt sein. Deshalb kniete sich Willibald Richter mit 57 Jahren und hochmotiviert in die einjährige Ausbildung zum SVEB-Zertifikat Kursleiter*in bei der Klubschule Migros. Ihn befielen ab und zu Zweifel, ob er als Lehrer bestehen würde. «Aber, es nicht mal zu probieren, wäre falsch gewesen. Man wächst ja an den Aufgaben.»
Das war vor sechs Jahren. «Den Schritt in den neuen Beruf zu wagen, war einer der besten Entscheide meines Lebens und eine Befreiung», lautet das Fazit des 63-Jährigen. Derzeit unterrichtet Richter rund 25 Lektionen wöchentlich an verschiedenen Ausbildungsinstituten im Raum Aarau und Bern. Sein Fächerspektrum geht von Sozialversicherungskunde bis Betriebswirtschaft und Recht für Handelsschulen, Management-Lehrgänge oder Gerichtsdolmetscher. Schulstoff zielgruppengerecht aufzubereiten halte ihn geistig mobil, sagt Richter. Doch das ist nur ein Aspekt. Die Arbeit ist bereichernd. Seinen Schülern gibt er dabei gern Zuversicht mit auf den Weg. Eine abgebrochene Ausbildung zum Beispiel sei kein Scheitern, sondern eine weiterbringende Erfahrung.
Mit 63 Jahren ist für Willibald Richter die Pensionierung in noch grössere Ferne gerückt. Im Gegenteil: Er fühlt sich angekommen. Und hat Lust auf mehr: «Wenn Erfahrung und Wissen brach liegen würden, wäre das doch schade.» Tiziana Ossola